Idee und Konzept des Paderborner Physikpraktikums 3P

Als Friedrich Kohlrausch 1860 die ersten „praktischen Übungen“ entwickelte, um seine Studenten an das wissenschaftliche Experimentieren heranzuführen, hatte er folgende Philosophie: „Der thunlichst weite Spielraum (…) soll dem Arbeitenden das notwendige Maß geistiger Selbstthätigkeit (…) bewahren. Nicht die nach einem Schema ausgeführte Aufgabe ist das, was einen Wert besitzt, sondern das geistige Eigentum, welches der Arbeitende bei der Ausführung erwirbt (Kohlrausch 1900).

Etwa 80 Jahre später passte Wilhelm Westphal das Praktikum auf den beginnenden Massenbetrieb an den Universitäten an und konzipierte Versuchsaufbauten mit präzisen Anleitungen und Musterlösungen. Die Entwicklung experimenteller Fähigkeiten und das „wissenschaftliche Denken“, für Kohlrausch „der Hauptzweck des Praktikums“, traten in den Hintergrund. Bei der Durchführung der Versuche wird nicht mehr selbstständig experimentiert, sondern ein "Kochrezept" abgearbeitet. Empirische Studien zeigen, dass sich die Studierenden den größten Teil der Praktikumszeit mit der Aufnahme von Messwerten beschäftigen. Die Durchführung der Versuche erfolgt kaum theorie- oder fragengeleitet bzw. reflektiert (Haller 1999). Eine strukturierte Diskussion oder Reflexion der verwendeten Methode, der erhobenen Messdaten bzw. der errechneten Ergebnisse erfolgt in den Praktikumsgruppen in der Regel nicht, obwohl diese Aspekte eine zentrale Stellung in der wissenschaftlichen Forschung einnehmen.

Das Paderborner Physik Praktikum verfolgt das Ziel, die experimentellen Kompetenzen, die ein Experimentalphysiker für seine Forschung benötigt, vom ersten Semester an strukturiert und aufeinander aufbauend mit dennoch freien Aufgabenstellungen zu fördern. Zu den experimentellen Kompetenzen zählen das Entwickeln der Fragestellung, das Planen und Dimensionieren des Versuchs, das Aufbauen des Experiments, das Testen und Optimieren, das Erfassen der Messwerte, die Auswertung der Messung, das Interpretieren der Ergebnisse und das Reflektieren des Experiments sowie die obligatorische Problemerkennungs- und Problemlösefähigkeit. Gleichzeitig sollen die Kommunikations- (z.B. Beurteilen und Diskutieren), Sozial- (u.a. Kooperationsfähigkeit und aufmerksames Zuhören) und Selbstkompetenzen (Zeitmanagement, Selbstständigkeit, Konzentrationsfähigkeit) der Studierenden systematisch entwickelt werden. Die Studierenden sollen im Verlauf der fünf Semester ein "Gefühl für die Physik" entwickeln. Dieses "Gefühl", verbunden mit der Begeisterung für ihr Fach, bilden die Basis für eine erfolgreiche Berufslaufbahn als Physiker in der Universität oder Industrie.

Das Paderborner Physik Praktikum 3P erstreckt sich über vier Semester. Der Erwerb der experimentellen Fähigkeiten erfolgt systematisch gestuft anhand der grundlegenden Inhaltsfelder der Physik. Während die inhaltlichen und kognitiven Anforderungen schrittweise gesteigert werden, nimmt die Lernbegleitung realisiert durch die Betreuer und die Materialien stetig ab. Ziel ist es, dass die Studierenden nach Beendigung des Grundpraktikums die Fähigkeiten, die für den physikalischen Forschungsprozess relevant sind, handlungsfähig erlernt haben.

Für die systematischen Ausbildung der experimentellen Kompetenz wird im ersten Semester zunächst an jedem Experimentiertag die Ausbildung einer Fähigkeit, wie z.B. die Beurteilung von Versuchsdesigns, verknüpft mit dem Themenfeld Mechanik eng angeleitet. Im zweiten Semester werden mehrere Fähigkeiten in längeren Phasen und weniger begleitet durch den Betreuer an jedem Experimentiertag entwickelt. Die inhaltliche Komplexität im Bereich der Elektrodynamik und damit verbunden auch der Umfang der Experimentiertage wird im Verlauf des Semesters systematisch gesteigert. Gleichzeitig tritt der Betreuer immer mehr in den Hintergrund, sodass die Studierenden schrittweise selbstständiger arbeiten.

Im dritten Semester beschäftigen sich die Studierenden mit der Automatisierung von Experimentieraufbauten. Am Ende des Semesters führen sie selbstständig ein eigenes Projekt mit vorgegebener Fragestellung durch. Der Betreuer kann nach Bedarf um Hilfestellung gebeten werden. Das Projekt präsentieren sich die jeweiligen Gruppen in Form eines wissenschaftlichen Posters im Planungsstadium und in Form eines wissenschaftlichen Vortrages und Berichtes nach Beendigung des Projektes. 

Nach Beendigung des dritten Semesters sollten die Studierenden fähig sein ein eigenes Projekt in allen Phasen des wissenschaftlichen Forschungsprozesses selbstständig zu durchlaufen. Im vierten Semester bearbeiten die Studierenden vom Suchen einer relevanten Fragestellung bis hin zur Präsentation der Ergebnisse ein eigenes Projekt nach dem Ansatz des offenen Experimentieren.

Fünf 90minütige Vorlesungen zu Beginn des ersten Semesters dienen dazu, das Grundwissen für das strukturierte Experimentieren, die Aufnahme von Messwerten, ihre Auswertung und Diskussion sowie das Schreiben einer ersten Veröffentlichung in Form eines Berichts zu vermitteln. Im Anschluss an jede Vorlesung werden in Präsenz-Übungen die Inhalte mit einer konkreten Aufgabenstellung angewendet und vertieft. Im Anschluss an die fünfte Vorlesung schreiben die Studierenden ihren ersten Praktikumsbericht aus den in den Präsenzübungen erarbeiteten Bausteinen.

Die Praktikumstage gliedern sich in alternierend aufeinander aufbauende Diskussions- und Experimentierphasen. Drei Zweierteams entwickeln, optimieren oder verwenden verschiedene Experimente zu einem gemeinsamen Oberthema (Inhalt und Kompetenzfacette betreffend). Alle sechs Studierenden diskutieren gemeinsam in moderierten Gesprächsrunden ausgewählte Gesichtspunkte zu den Experimenten.

In den typischerweise drei Diskussionsrunden eines Praktikumstages lernen die Studierenden, sich fundiert und präzise auszutauschen. Es werden die Experimentierphasen vor- und nachbereitet und Theorie und Praxis vor dem Hintergrund der konkreten Aufgabenstellung gedanklich und sprachlich verknüpft. Die Studierenden lernen voneinander und durch das Vorbild des Betreuenden die Fachsprache der Physik und das kategoriengeleitete Diskutieren z.B. über den Vergleich unterschiedlicher Messmethoden oder die Ursache von Messunsicherheiten.

An jedem Praktikumstag beschäftigen sich die Studierenden mit verschiedenen experimentellen Aufbauten und nähern sich so dem Oberthema auf unterschiedliche Weise. Sie verknüpfen ihr fachliches und prozedurales Wissen mit ihren experimentellen Fertigkeiten und entwickeln so ihre experimentelle Kompetenz. Als Team arbeiten sie gemeinsam, müssen ihr Vorgehen und ihre Tätigkeiten aufeinander abstimmen und arbeiten an ihren Selbst- und Sozialkompetenzen.

Die Studierenden erhalten im Verlauf der Praktikumssemester vielfältige materielle Hilfestellungen. Für die Vorbereitung der Experimentiertage sind Anleitungen entwickelt worden. Diese sind so gegliedert, dass nach einer fachmethodischen Einführung in das Tagesthema mit aktuellem Forschungsbezug eine detaillierte Aufgabenstellung für den Experimentiertag folgt. Die Aufgabenstellungen, bestehend aus dem fachinhaltlichen Schwerpunkt, dem fachmethodischen Schwerpunkt und dem kognitiven Anforderungsniveau, werden den Studierenden transparent und differenziert mitgeteilt, um so eine tiefergehende Vorbereitung und somit einen effektiveren Lernprozess zu gewährleisten. Weiterhin werden den Studierenden Literaturhinweise gegeben. 

Ab dem zweiten Semester wird von den Studierenden eine tiefergehende Vorbereitung auf die Experimentiertage verlangt, damit sie die steigende inhaltliche Komplexität bewältigen können. Neben den weiterhin eingesetzten Literaturhinweisen erhalten die Studierenden Aufgaben, die sie unter Verwendung des Simulationsprogrammes LTSpice bearbeiten sollen. Die Aufgaben werden sowohl innerhalb der einzelnen Experimente als auch im Verlauf des Semesters stufenweise komplexer. 

Ab dem dritten Semester bekommen die Studierenden nur noch die Aufgabenstellungen für den Experimentiertag und eine fachmethodische Einführung in das Experimentierthema. Die weitere Vorbereitung erfolgt selbstständig durch die Studierenden.

Im vierten Semester dürfen die Studierenden eigenständig eine physikalische Fragestellung entwickeln und sind somit vollständig selbstständig für die Erarbeitung der theoretischen Grundlagen verantwortlich.

Eine zentrale Rolle kommt in diesem Konzept den Praktikumsbetreuern zu: Sie sind Experten, Vorbilder und Botschafter ihres Fachs, die die Begeisterung der Studierenden für die Physik wesentlich mitgestalten. Sie haben die Aufgabe, den selbstgesteuerten Lernprozess der Studierenden zu begleiten, zu fördern und zu lenken. Sowohl in den Diskussionsrunden als auch in den Experimentierphasen setzen die Betreuer individuell auf die Kompetenzstufen der Studierenden zugeschnittene inhaltliche Impulse bzw. formulieren den Prozess moderierende Fragen anstatt Lösungen vorzugeben oder direkt auf Fehler hinzuweisen. Darüber hinaus beobachten und bewerten die Betreuer die Leistungen der Studierenden und geben ihnen ein konstruktives Feedback.

Das in diesem Konzept breite Aufgabenspektrum der Betreuer erfordert eine umfassende Schulung. Im Rahmen eines viertägigen Workshops, geleitet durch ein interdisziplinäres Dozententeam, erarbeiten die Teilnehmenden rezeptiv bzw. aktiv das grundlegende Handwerkszeug für die Moderation der Praktikums-Tage und die Lernbegleitung in den Experimentierphasen, wenden es in praktischen Übungen an und reflektieren das eigene Handeln. Die Teilnehmenden bringen ihr Vorwissen und ihre Professionalität  in den strukturierten Lernprozess ein, entwickeln vorhandene Kompetenzen weiter bzw. bilden neue aus.
Die ziel- und anwendungsorientierte Verknüpfung von Physik und Lehr-Lern-Theorie gewährleistet das interdisziplinäre Team von Fachphysiker und Pädagogin. Der Workshop wird in Kooperation mit der Stabsstelle Bildungsinnovationen und Hochschuldidaktik der Universität Paderborn angeboten sowie im hochschuldidaktischen Weiterbildungsprogramm „Professionelle Lehrkompetenz für die Hochschule“ in NRW angerechnet.