Entwicklung eines Bewertungsmodells zur handlungsorientierten Messung  experimenteller Kompetenz (Physik)Studierender 

1.Ausgangslage 

Der Erwerb experimenteller Kompetenz stellt in naturwissenschaftlichen und technischen Studiengängen eines der elementarsten Lernziele dar. Typischerweise lernen die Studierenden die Erkenntnismethodik des Experimentierens im Rahmen von Laborpraktika kennen. Laborpraktika sind ein fester Bestandteil naturwissenschaftlicher und technischer Studiengänge an Universitäten und Fachhochschulen. In ihnen sollen Studierende grundlegende experimentelle Fähigkeiten und Fertigkeiten erwerben. Dies schließt auch das Diskutieren über Fachinhalte oder das Verfassen von fachwissenschaftlichen Texten ein (Empfehlung der Konferenz der Fachbereiche Physik, 2010). 

Bezogen auf diese Zielsetzung wird die Lernwirksamkeit traditioneller Laborpraktika allerdings als gering eingeschätzt (Welzel & Haller, 1998). Ihre Organisations- und Aufgabenstruktur - die Studierenden erhalten eine kochrezeptartige Anleitung, die schrittweise abgearbeitet wird - fördert den Erwerb elaborierter experimenteller Fähigkeiten nur gering, da kaum Entscheidungssituationen zu bewältigen sind (Holmes, Wieman & Bonn, 2015; Tesch, 2004). Als Konsequenz sind zum einen umfangreiche Zielkataloge für die zu erlernenden Fähigkeiten mit Hilfe von Expertenbefragungen (Lehrende, Studierende) entstanden (Empfehlung der Konferenz der Fachbereiche Physik, 2010; Nagel, Scholz & Weber, 2019). Zum anderen sind Neukonzeptionierungen von Laborpraktika auf Basis unterschiedlicher didaktischer Ansätze (didaktische Rekonstruktion (Theyßen, 1999), forschendes Lernen, Cognitive Apprenticeship (Bauer, A. B. & Sacher, 2018)) entwickelt worden. 

An dieser Stelle setzt das hier vorgestellte Projekt an. In einem ersten Schritt wurde anhand von videografierten Realexperimenten unterschiedlich fähiger Probanden ein Bewertungsmodell entwickelt. Das Modell erlaubt die Analyse der Tiefenstruktur experimenteller Performanz vor dem Hintergrund des Gesamtprozesses (Bauer, A. B., Reinhold, P. & Sacher, 2020). Ausgehend von diesem Modell soll ein Beobachtungsbogen entwickelt werden, der variabel an die Anforderungen der Lernumgebung angepasst werden kann. 

2.Forschungsstand Diagnostik experimentelle Fähigkeiten 

Modellierungen und Instrumente zur Messung experimenteller Kompetenz in den naturwissenschaftlichen Fächern existieren gegenwärtig in zahlreicher Form nur für den Bereich Schule (Überblick: Emden, 2011). Vereinzelt wurden diese Modelle zur Diagnose experimenteller Kompetenz auf Hochschulebene, allerdings dann für Lehramtsstudierende und dies auch nur in Form von Paper-Pencil-Tests (Straube, 2016) herangezogen.

Eine Adaption schulischer Modelle muss unter der Anpassung der Modelle hinsichtlich der zu erreichenden Kompetenzen auf Basis der universitären Zielsetzungen erfolgen, um dem höheren Anspruch des Experimentierens an Universitäten gerecht zu werden (Galison, 1987; Höttecke & Rieß, 2015). Für das Studienfach Physik existiert bisher kein einheitliches, differenziertes Curriculum. Auch fehlt eine passgenaue Definition universitären Experimentierens und der zu erwerbenden Kompetenzen. Die für Laborpraktika erhobenen Zielsetzungen stellen zwar eine umfangreiche Sammlung an experimentellen Fähigkeiten und Fertigkeiten dar, sind jedoch zumeist nicht differenziert und handlungsorientiert genug beschrieben. 

3.Fragestellungen des Projektes 

Zur Entwicklung eines handlungsorientierten Bewertungsmodells experimenteller Kompetenz Physikstudierender auf universitärem Niveau werden drei Fragestellungen untersucht.

  • Welche Strukturmerkmale weist die Erkenntnismethodik des Experimentierens auf universitärem Niveau in Abgrenzung zum schulischen Experimentieren auf? 

  • Wie können qualitative Unterschiede in der Ausprägung der experimentellen Kompetenz auf Hochschulniveau strukturiert und beschreibbar gemacht werden? 

  • Welches Anforderungsniveau, d.h. welchen Ausprägungsgrad der einzelnen Facetten experimenteller Kompetenz, können am Ende des Anfängerlaborpraktikums des Studiengangs Physik erwartet werden? 

4.Forschungsdesign 

Die Entwicklung des Bewertungsmodells erfolgt methodisch in einem mehrschrittigen Verfahren durch komparative Fallstudien (Abb.1).

Abb.1: Schematische Darstellung der Bestandteile des Forschungsdesigns und des Ablaufs der Erstellung des Bewertungsmodells.

Für die deskriptive Anreicherung sind standardisierte Experimentieraufgaben entwickelt und Probanden unterschiedlicher Fähigkeitsniveaus zur Bearbeitung vorgelegt worden. Die Bearbeitung wurde videografiert und als zusätzliche Daten sind die Mitschriften der Probanden (in Form eines Laborbucheintrages), ihre Auswertungsdateien, die Browserverläufe des bereitgestellten Rechners sowie personenbezogene Informationen erhoben worden. Die Videos wurden mit Hilfe der qualitativen Videoanalyse analysiert und interpretiert. Im Anschluss sind zu Validierungszwecken mit den Probanden Stimulated-Recall-Interviews geführt worden. 

In einem vierschrittigen Verfahren sind die Daten unter Nutzung der dokumentarischen Methode zu komparativen Fallstudien zusammengeführt worden. Ziel war die Rekonstruktion impliziter Wissensbestände unter Berücksichtigung der Sequentialität des Handelns (Bohnsack et al., 2013). Dieses Vorgehen erlaubt es, sowohl auf individueller Ebene als auch vergleichend zwischen den Fällen die Tiefenstruktur der gezeigten Performanz zu analysieren. Im zweiten Schritt wurden möglichst kontrastive Fälle ausgewählt (theoretical sampling), um das Modell deskriptiv anzureichern. Im dritten Schritt wurden die Handlungsbeschreibungen der einzelnen Fallbeschreibungen den Facetten des Modells zugeordnet. Innerhalb der Facetten wurden die Handlungsbeschreibungen mit der typenbildenden Inhaltsanalyse (Kuckartz, 2012) analysiert, um typische Handlungsmuster zu identifizieren. Unter Anwendung des Außenkriteriums Komplexität sowie typischer Handlungsmuster wurden dann Qualitätsstufen gebildet, die pro Facette eine Unterscheidung von Fähigkeitsniveaus ermöglichen. Der Fokus lag dabei auf Qualitätsunterschieden in der Differenziertheit der Argumentation innerhalb des Gesamtprozesses.

5.Fazit & Ausblick 

Das Bewertungsmodell stellt die Grundlage für einen Beobachtungbogen, der eine standardisierte Beurteilung studentischer Leistungen beim Experimentieren oder in einer handlungsorientierten Prüfungssituation ermöglichen, dar. Darüber hinaus kann das Bewertungsmodell Hinweise für die Gestaltung von Aufgabenstellungen zur Adressierung verschiedener Fähigkeiten in Versuchsanleitungen liefern. Mit dem Modell könnten auch unterschiedliche Praktikumskonzeptionierungen verglichen werden, um Ansätze zu identifizieren, die die Ausbildung einzelner, experimenteller Fähigkeiten möglichst effizient unterstützen. Daraus könnten Hinweise zur Weiterentwicklung des Veranstaltungsformats Laborpraktikum abgeleitet werden.

6.Literatur 

Bauer, A. B., Reinhold, P., Sacher M. D. (2020). Bewertungsmodell zur experimentellen Performanz (Physik)Studierender. GDCP Tagungsband - Jahrestagung Wien 2019, 106–110.

Bauer, A. B., Sacher M. D. (2018). Kompetenzorientierte, universitäre Laborpraktika: Das Paderborner Physik Praktikum (3P). PhyDid B, Beiträge zur DPG-Frühjahrstagung 2018 in Würzburg, 65–72.

Bohnsack, R., Nentwig-Gesemann, I. & Nohl, A.-M. (Hg.). (2013). Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis: Grundlagen qualitativer Sozialforschung (3., aktualisierte Aufl.). Wiesbaden: Springer VS. 

Emden, M. (2011). Prozessorientierte Leistungsmessung des naturwissenschaftlich-experimentellen Arbeitens: Eine vergleichende Studie zu Diagnoseinstrumenten zu Beginn der Sekundarstufe I. Studien zum Physik- und Chemielernen: Bd. 118. Berlin: Logos. 

Empfehlung der Konferenz der Fachbereiche Physik. (2010 in Berlin). Zur Konzeption von Bachelor- und Masterstudiengängen in der Physik. Url: https://www.kfp-physik.de/dokument/KFP_Handreichung_Konzeption-Studiengaenge-Physik-101108.pdf (Stand: 31.05.2020). 

Holmes, N. G., Wieman, C. & Bonn, D. A. (2015). Teaching critical thinking. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, 112(36), 11199–11204.

Höttecke, D. & Rieß, F. (2015). Naturwissenschaftliches Experimentieren im Lichte der jüngeren Wissenschaftsforschung ‐ Auf der Suche nach einem authentischen Experimentbegriff der Fachdidaktik: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften, 21(1), 127–139. 

Kuckartz, U. (2012). Qualitative Inhaltsanalyse: Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim u.a.: Beltz Juventa. 

Nagel, C., Scholz, R. & Weber, K. (2019). Umfrage zu Lehr/Lernzielen in physikalischen Praktika. PhyDid B - Didaktik der Physik- DPG-Schule Physikalische Praktika, Bad Honnef, 97–109.

Straube, P. (2016). Modellierung und Erfassung von Kompetenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung bei (Lehramts-) Studierenden im Fach Physik. Studien zum Physik- und Chemielernen: Bd. 209. Berlin: Logos.

Theyßen, H. (1999). Ein Physikpraktikum für Studierende der Medizin: Darstellung der Entwicklung und Evaluation eines adressatenspezifischen Praktikums nach dem Modell der Didaktischen Rekonstruktion. Studien zum Physik- und Chemielernen: Bd. 9. Berlin: Logos. 

Welzel, M. & Haller, K. e. a. (1998). Ziele, die Lehrende mit dem Experimentieren in der naturwissenschaftlichen Ausbildung verbinden: Ergebnisse einer europäischen Umfrage. Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaft, 4(1), 29–44.