Machine Learning basierte Kompetenzprofile im Physikdidaktischen Wissen

Das Professionswissen von Lehrkräften gilt im Rahmen üblicher Wirkungsmodelle von Bildungsprozessen als eine Voraussetzung für guten Unterricht (z. B. Terhart 2012). Klassische Modellierungen des Professionswissens (Shulman 1986; Baumert & Kunter 2006; adaptiert für die Physik nach Riese 2009) umfassen typischerweise die drei zentralen Domänen Fachwissen (FW), allgemeines Pädagogisches Wissen (PW) und Fachdidaktisches Wissen (FDW). Das FDW wird dabei grob als dasjenige Wissen, das zur adressatengerechten Aufbereitung des FDW notwendig ist, beschrieben.

FDW wird hierzulande üblicherweise dreidimensional modelliert (Tepner et al. 2012; Kröger 2019; Gramzow 2015). Untersuchungen im Rahmen quantitativer Scores zeigen signifikante Zuwächse des FDW im Studium und Vorbereitungsdienst (z. B. Riese & Reinhold 2012; Kirschner 2013; Kröger 2019) sowie Zusammenhänge zwischen den Domänen des Professionswissens (z. B. Sorge et al. 2019; Riese 2009) und Performanz in prototypischen Anforderungssituationen (z. B. Schröder et al. 2020; Kulgemeyer et al. 2020).

Größere empirische Forschungsarbeiten zum FDW fokussieren im deutschsprachigen Raum primär globale quantitative Aussagen auf Konstrukt-Ebene. Zur Ermöglichung von inhaltlich reichhaltigem Feedback sowie zur inhaltlichen Aufklärung von Leistungsunterschieden sind darüber hinaus jedoch auch empirisch fundierte inhaltlich-kriterienorientierte Beschreibungen von Ausprägungen des FDW notwendig. Erste Analysen im Bereich des FDW nutzen das Scale-Anchoring-Verfahren (z. B. Mullis et al. 2015) um Niveaustufen mithilfe von Item-Response-Modellen (IRT-Modellen) zu beschreiben (Schiering et al. 2023; Zeller et al. 2022).

Zielsetzung des Projekts

Um inhaltlich reichhaltiges Feedback zum FDW zu ermöglichen und für die Lehrpraxis nutzbar zu machen sind drei Schritte notwendig:

- Die Ausprägungen des FDW von Lernenden müssen valide in ein – möglichst empirisch fundiertes – Modell eingeordnet werden können.

- Die „wahrscheinliche“ Entwicklung und Veränderung des FDW (z. B. als Reaktion auf bestimmte Lehrveranstaltungen) sollte bekannt sein.

- Es müssen passende Reaktionen entwickelt und dann ausgewählt werden.

Dieses Projekt setzt primär beim ersten und zweiten Desiderat an und umfasst dafür die folgenden Arbeitspakete:

Es wurde (Stand Mai 2023) eine projektübergreifende Analyse des FDW mithilfe von IRT-Modellen auf Basis, nach dem Vorbild und in Kooperation mit der Arbeitsgruppe der Physik-Sparte der KiL / KeiLa Projekte (IPN Kiel; Schiering et al. 2019, 2023) durchgeführt. Es werden Clusteranalysen auf Basis von Machine Learning (ML) Methoden zur Aufdeckung reichhaltiger nicht hierarchischer inhaltlicher Strukturen durchgeführt. Zur Nutzbar-Machung der Ergebnisse für die Praxis soll die Auswertung eines validierten Testinstruments für das FDW (Gramzow 2015) automatisiert werden. Das zweite Arbeitspaket wird dabei durch Veränderungsanalysen z. B. durch die bereits im Datensatz enthaltenen Informationen über den Studienfortschritt ergänzt. Genutzt wird der Datensatz aus dem Projekt ProfiLe-P+ (Vogelsang et al. 2019).

Methode und erste Ergebnisse

In den Analysen zum ersten Arbeitspaket ergab die Anwendung des Scale-Anchoring-Verfahrens systematische Gemeinsamkeiten der erhaltenen Niveaubeschreibungen in Form lernpsychologisch interpretierbarer Operatoren. Projektübergreifend zeigt sich, dass FDW in niedrigen Ausprägungen primär auf reproduktive Aspekte beschränkt bleibt während in höheren Ausprägungen kreative und evaluierende Elemente hinzukommen. Diese Ergebnisse sind konform mit kognitionspsychologischen Ergebnissen zum Wissenserwerbsprozess (z. B. Gagné & White 1978) sowie entsprechenden Taxonomien (z. B. Anderson & Krathwohl 2001). Der hierbei genutzte hierarchische Ansatz des Scale-Anchoring-Verfahrens liefert jedoch keine Unterscheidung zwischen eher kreativen und eher evaluierenden Ausprägungen.

Auf diesen Ergebnissen aufbauend werden Clusteranalysen der Testdaten durchgeführt, die bisher selten in der Naturwissenschaftsdidaktik genutzt werden (Zhai et al. 2020a, 2020b) aber zur Aufklärung möglicherweise vorhandener nicht hierarchischer Strukturen geeignet sind. Dabei werden im Sinne einer Computational Grounded Theory (Nelson 2020) Computer-basierte Analysen mit menschlichem Expertenwissen (dieses zunächst in Form von Aufgabenanalysen) verknüpft, um (nicht zwingend hierarchische) „Kompetenzprofile“ des FDW zu beschreiben. Erste Ergebnisse zu möglichen Kompetenzprofilen wurden bereits auf der GDCP Jahrestagung 2022 in Form eines Posters vorgestellt (Zeller & Riese im Druck). In einem weiteren Schritt sollen diese Clusteranalysen der Score-Daten mit Analysen der authentischen Sprachproduktionen der Proband:innen unterfüttert werden. Dazu sollen Topic Models (Blei et al. 2003; Blei 2012) bzw. Structural Topic Models (Roberts et al. 2019) oder auch Deep Topic Models (Grootendorst 2022) genutzt werden. Solche Ansätze bieten die Möglichkeit, den typischen Sprachgebrauch von Proband:innen bestimmter Kompetenzprofile genauer zu beschreiben und somit die Beschreibung der Profile weiter auszuschärfen.

Die Automatisierung der Auswertung des verwendeten, validierten Testinstruments stellt eine nicht-triviale Aufgabe dar, da das Testinstrument zu einem Großteil aus Aufgaben mit offenem Antwortformat besteht. Es existieren im Bildungsforschungsbereich bereits Ansätze zum automatisierten Scoren auf Aufgaben-Ebene (z. B. Andersen & Zehner 2021), allerdings kann auch eine automatisierte Zuordnung zu den Fähigkeitsprofilen aus dem zweiten Arbeitspaket in den Blick genommen werden. Gerade dieser Ansatz kann aufgrund der für diesen Zweck größeren Textmenge, die pro Proband:in zur Verfügung steht, durch vortrainierte Neuronale Netzwerke (z. B. „BERT“ nach Devlin et al. 2019, angewendet in der Naturwissenschaftsdidaktik z. B. von Wulff et al. 2022) im Sinne eines „Transfer Learnings“ unterstützt werden. Einen typischen Benchmark für die Güte des entwickelten Systems ist die Mensch-Maschine Übereinstimmung z. B. in der Form von Cohens κ (z. B. Zhai et al. 2021).

Fazit und Ausblick

Die beschriebenen Analysen des ersten Arbeitspakets lassen die folgenden Ansätze als vielversprechende Kandidaten für die Beschreibung auch nicht-hierarchischer Strukturen des FDW erscheinen. Da Cluster Analysen allerdings bisher eher selten in der Naturwissenschaftsdidaktik angewendet werden, stellt hier auch die Entwicklung / Komposition geeigneter Methoden eine Herausforderung dar.

Literatur

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Foto von Jannis Zeller

Jannis Zeller

Didaktik der Physik

Universität Paderborn